In einem Artikel eines relativ bekannten Psychologie-Magazins las ich neulich etwas interessantes zum Phänomen Twitter. Twitter löse den sogenannten “Steinzeitreflex” aus. Neue Informationen werden sofort beim Auftauchen aufgesogen, alle anderen Kanäle werden auf Standby geschaltet. Neue Informationen können das Überleben sichern. Jedenfalls damals. In der Steinzeit.
Twitter ist allgegenwärtig. Immer mehr internetaffine Menschen nutzen den Kurznachrichten-Dienst. Ich auch. Manchmal erfahren wir wichtiges, oft erfahren wir unwichtiges. Wir picken uns die Rosinen raus, aber das kostet Zeit und blockiert alle möglichen anderen Prozesse. So weit, so gut. So gut, so schlecht.
Ernst Pöppel, Professor für Medizinische Psychologie von der Universität München, behauptet folgendes: “Wenn man kontinuierlich sozial vernetzt ist und sich keine Zeit mehr für sich selbst nimmt, zum eigenen Nachdenken, dann können sich keine kreativen Prozesse entfalten. Wir vernichten unsere kreativen Potenziale durch den Terror der Kommunikation.”
Dies als Grundgerüst für die folgenden Gedanken, denn seit geraumer Zeit liegt bei mir ein Text zu Robert Enke und dessen Tod, dessen Aufarbeitung, der Bedeutung des Internets und ähnlicher Phänomene auf Halde. Das Thema Enke ist ein brenzliges und es ist schwer, sich nicht mit seinen Worten in die Nesseln zu setzen.
Zunächst möchte ich auf den Tag des Selbstmords eingehen. Ich sitze daheim, bereite mich auf eine Internetradiosendung zum Thema Nachwuchsspieler vor, nebenbei: Informationsaufnahme bei Twitter. Dann gegen 20:00 Uhr kommt die “Rosine”. Robert Enke hat sich vor einen Zug geworfen.
Der “Steinzeitreflex” setzt ein. Ich will vorne mit dabei sein, will wissen was passiert ist, durchforste das Netz und bin bestürzt, weil andere es sind. Meinen eigenen Gedanken oder Gefühlen kann ich kaum nachgeben, da ich vorgeführt bekomme, wie ich zu fühlen habe. Gemeinsam sind wir alle betroffen, betrübt, zu Tränen gerührt.
Wenn man nicht aufpasst, braucht man sich keine großen eigenen Gedanken mehr machen. Vor knapp 10 Jahren hatte ich eine ähnliche Situation. Während ich daheim saß, am 11.09.01 stürzten die Twin-Towers in New York ein, getroffen von zwei gekaperten Flugzeugen. Ich saß den ganzen Tag daheim, googelte, las Nachrichtenseiten, schaute fern und spürte eine ähnliche Betroffenheit, wie just am Tag des Tods von Robert Enke. Eine Gelähmtheit trifft es fast besser.
Erstaunlich war, dass ich an diesem Tag mit meiner damaligen Freundin telefonierte. Sie lebte in Schottland, in den Highlands, als Betreuerin in einem Heim für geistig-behinderte Kinder und alles was sie dort an medialer Zerstreuung hatten, war ein Radio. Sie war betroffen, aber das Leben geht weiter, erklärte sie mir. Wir haben andere Aufgaben, lenk dich ab, so ihre Worte, auf die ich relativ schockiert reagierte.
Durch das Netz, durch Twitter sind wir scheinbar nah dabei. Aber nur scheinbar.
Dieser Tage erklärte Manchester United offiziell, dass die Spieler des Vereins keinerlei Facebook- oder Twitteraccounts betreiben dürften. Es gab einen kleinen Aufschrei unter den Fans, auch Verständnis, so von wegen, nicht, dass geheime Infos an die Öffentlichkeit dringen, ohne Absprache mit dem Verein, aber letztlich wollten vor allem die Anhänger ja nah an ihren Stars sein.
Ist man das?
Zurück zu Robert Enke. Am Tag nach dem Tod des Nationalkeepers hatte ich das ungemeine Glück, in die Schweiz zu fahren, wenig Internetzugriff zu haben und von all den Gedanken der anderen Menschen a.k.a. Internetnutzer nichts mitzubekommen. Das tat gut.
Die Frage war: Ist man nah an seinen Stars, nur weil sie uns twittern, dass sie gerade auf dem Weg vom Training in die Pizzeria sind? Sind wir ihnen nah, weil sie im Interview sagen, dass das ein geiles Spiel war? Wohl nicht, oder wäre jemand Robert Enke näher gewesen, wenn er einen Facebook-Account gehabt hätte?
So muss ich mich dieser Tage nicht wundern, dass einst die Bild-Zeitung behauptete, dass man vorsichtig mit “Noten” umgehen müsse und nun zwei Monate später, alle Hannoveraner im Spiel gegen Hertha BSC Berlin mit einer “6” belohnte. Wundert das wen? Muss ich mich darüber aufregen? Erwähnen ja, aufregen nein.
Im Nachhinein weiß ich auch nicht, wie ich beispielsweise damit umgehen soll, dass ein SpOn-Redakteur auch depressiv war und sich nun outete. Hilft das wem? Denken wir jetzt um? Oder springt der Mann auf den Robert-Enke-Medien-Rennwagen? Ist Depression jetzt noch ein Thema?
Einen runden Abschluss zu finden, fällt mir schwer. Die ganze Geschichte hat noch so viele unberührte und unbenannte Aspekte. Vielleicht hat ja noch jemand hilfreiche Ideen und Tipps.
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